Marias Gang über die Felder


1929

Das erste Mal, dass die Maria an den Tod gedacht hatte, da war sie keine fünf Jahre alt gewesen. Es war schon spät in der Nacht. Sie war aus einem dunklen Albtraum erwacht und stand mit nackten Füßen auf dem kalten Linoleum­boden. Ein angefres­sener Halbmond schien durch die großen Kreuzfenster wie eine gebrochene Oblate, den halben Nachthimmel einnehmend. Sie rief nach ihren Eltern. Ihre helle, verweinte Stimme hallte durch die hohen Mauern des langen Flures. Sie fror in ihrem dünnen Nachthemd und rief noch einmal. Dringender. Verzweifelter. Endlich kam Schwester Johanna aus dem Aufsichts­raum. Sie lief auf die Maria zu, kniete sich hin und nahm sie in ihre Arme. Dann legte sie sich Marias kalte Händchen an ihre Wangen und erklärte ihr behutsam, dass ihre Eltern schon im Himmel seien, aber dass Papa und Mama sie immer liebgehabt hätten. Und dass die Eltern sie von dort oben beobachteten und ihre schützenden Hände über sie hielten, solange sie lebe. Die Wahrheit über ihre Eltern, die auch Schwester Johanna nicht kannte, würde sie erst viele Jahre später erfahren.

Schwester Johanna war die einzige der Aufseher­innen im Waisenhaus, die auf ihre so manch großen Seelenqualen einging. Sie nie schlug, wenn sie etwas falsch gemacht hatte. Die immer bemüht war, eine beruhigende, aber auch ehrliche Antwort auf ihre kindlichen Fragen zu geben. Die Maria konnte ihre Aufrichtigkeit spüren. Die junge Frau schien die einzige zu sein, die wusste, wie es in Kinderseelen aussah und die eine kindliche Sicht auf die Welt verstehen konnte und sich diese Sicht sogar bewahrt hatte. Schwester Johanna war eine junge Novizin. Und die Maria hatte sie sehr lieb.

1932

Die Maria war acht Jahre alt gewesen, da hatte sie die Johanna schon drei Tage nicht mehr gesehen. Sie hatte sie überall gesucht und vorsichtig zwei andere Auf­seherinnen gefragt. Niemand konnte ihr etwas sagen.

Sie bekam Bauchschmerzen, weil sie die Johanna so schrecklich vermisste und jedes zweite Essen ließ sie unangetastet. Gleichzeitig hatte sie Angst, dass die Johanna das Waisenhaus für immer verlassen haben könnte.

Als die Maria es vor Sorge nicht mehr aushielt, nahm sie all ihren Mut zusammen und klopfte an die Tür der Mutter Oberin. Die alte Frau öffnete und schaute aus wässrigen Augen überrascht, aber doch streng auf sie herab. Die Maria machte einen Knicks und stellte ihr die Frage, die sie sich zuvor zurechtgelegt und auswendig gelernt hatte.

Sie sagte: «Verzeihen Sie vielmals, Mutter Oberin. Ich will nicht neugierig erscheinen, aber ich muss Sie fragen, was mit Schwester Johanna ist. Ich habe sie schon seit Tagen nicht mehr gesehen.»

Lange Zeit sagte die Mutter Oberin nichts, überlegte und bewegte nur den Unterkiefer, als würde sie etwas zermalmen. Sie schaute über Marias Kopf hinweg bis zum Ende des Flurs, schaute ihr dann wieder in die Augen und antwortete endlich in einem fast vorwurfs­vollen Ton. Und da erst erfuhren die Maria und dann auch später die anderen Kinder, dass Schwester Johanna an Tuberkulose erkrankt war, was eine Krankheit der Lungen sei. Und dass man sie in die Lungenheilstätte Ronsdorf gebracht habe. Aber dort gehe es ihr sicherlich bald wieder besser.

Die Maria betete jeden Morgen nach dem Aufwachen und jeden Abend vor dem Zubettgehen. Und zwischendurch bekreuzigte sie sich vor den Kruzifixen über den Türen und wann immer es ging. Sie betete stumm ein Vaterunser oder auch zwei. Auch das Gegrüßet-seist-du-Maria. Manchmal sogar einen ganzen Rosenkranz.

Aber die Johanna erholte sich nicht. Nach weiteren drei Wochen verkündete die Mutter­ Oberin beim Frühstück im großen Speisesaal, dass Schwester Johanna in der letzten Nacht an den Folgen ihrer langandauernden Krankheit verstor­ben sei. Die Mutter Oberin beendete ihre Mitteilung mit einem Der Herr gebe ihr die ewige Ruhe. Dann ging sie zur Tagesplanung über.

Die Maria ließ ihr angebissenes Brot aus der Hand fallen und stand auf. Ihr Stuhl kippte um. Alle Augen richteten sich auf sie und die Maria lief auf den Flur und zum hinteren Ausgang. Zum Garten hin und von dort zur Apfelbaumwiese bis in die allerhinterste Ecke des Geländes. Auf einigen Stellen der Wiese lagen noch kleine Inseln von schmutzigem Schnee. Sie hockte sich auf einen feuchten Baumstumpf und weinte. Eine halbe Stunde saß sie dort in der Kälte. Doch sie fror nicht. Wut und Trauer hatten die Kälte aus ihrem Körper gebrannt.

Das war nun die Antwort auf ihre Gebete gewesen. Sie verfluchte Gott. Sie riss sich die Kette mit dem silbernen Kreuz, das man zur Kommunion geschenkt bekommen hatte, vom Hals und warf sie mit größter Achtlosigkeit hinter sich in die Hagebuttensträucher. Wenn Gott nicht einmal für einen so lieben, guten Menschen, den er zudem selbst erschaffen haben wollte und der in größter Not war, Mitleid zeigte, dann war Gott böse. Oder aber er existierte einfach nicht. Die Maria entschied sich für Letzteres. Von da an und bis ans Ende ihres Lebens spielte Gott für sie keine Rolle mehr. Irgendwann waren alle Tränen geweint und während sie sich mit gefrorenem Schnee das Gesicht einrieb, hatte sie einen Entschluss gefasst. Sie musste nicht lange darüber nachdenken. Der Entschluss war einfach da und stand unumstößlich fest.

Sie lief zurück ins Haus, die Treppen hoch bis zum Dachboden. Vorbei an alten Möbeln und den Weih­nachts- und Oster­deko­ra­tionen. Sie öffnete das Erker­fenster und sprang ohne zu zögern und lautlos in die Tiefe.

Alois Krüger war der Hausmeister des Waisen­hauses. Der Mann, der seit dem letzten Krieg ein Holzbein trug und selbst so manches Mal darüber nachgedacht hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen, fand die Maria zwanzig Minuten später bewusstlos in den Gehölzrabatten. Erst am Spätnachmittag, tags darauf, wachte sie im Krankenhaus wieder auf. Die Ärzte sagten, dass sie nur einen zweifach gebrochenen Unter­schenkel, eine Gehirn­erschütterung und ein paar Schürfwunden davon­getragen habe. Und dass sie Gott danken solle für so viel Glück.

Sieben Wochen lang musste sie einen Gipsverband um ihr Bein tragen. Nach zwei Wochen durfte sie das Krankenhaus verlassen und verbrachte die restliche Zeit alleine in einem kleinen Einzelzimmer des Waisenhauses, unmittelbar neben dem Zimmer der Mutter Oberin. Die anderen Kinder besuchten sie anstandshalber, sprachen aber nur noch kurz und nur das Nötigste mit ihr. Für Ballspiele, Fangen, auf Bäume klettern, oder fast jegliches andere Kinderspiel, kam sie nicht mehr in Frage.

In Wirklichkeit aber mieden die Kinder sie, weil sie wussten, dass es Marias Absicht gewesen war, sterben zu wollen. Sie verstanden die Maria nicht. Und das machte sie nicht mehr zu einer von ihnen. Es machte sie zu einer Fremden. Fast zu einer Erwachsenen. Womöglich sogar zu etwas Gefährlichem. Was man nicht verstand, konnte gefährlich sein.

Als ihr der Gips wieder abgenommen wurde, war ihr Bein milchweiß und dünner geworden. Sie war nun zwar wieder vollkommen geheilt und hätte bei allen Spielen mitmachen können, aber die Kinder gingen weiter auf Abstand, so als würde die Maria einen unangenehmen Geruch verströmen. So blieb sie meist alleine im Gebäude zurück und hörte durch die Fenster die leisen Stimmen der Kinder auf der Wiese. Oder sie saß abseits auf einer Mauer, während die anderen Völkerball spielten. Im Essenssaal blieb oft neben ihr und den Anderen ein Stuhl frei. Und so lernte sie, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Das Puppenhaus aufzubauen und in den Puppen, mit denen sie Familie spielte, Freunde zu finden. Sie sprach mit den Puppen oder den Gegenständen, die sie umgab, so, wie man es eigentlich nur von einsamen, alten Menschen kannte.

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