Was am Ende übrig bleibt

Und augenblicklich dachte ich an Elke, das mit Abstand und zweifellos hübscheste Mädchen des gesamten Erft­gymnasiums. Groß und schlank, lange, gelockte, brü­nette Haare, ein fein geschnittenes, aristokratisch edel anmuten­des Gesicht, aber auch mit einer wie einen unsichtbaren Schutzschild vor sich hertragenden Aura des Unbe­rührbaren, von solch überirdischer Schönheit, dass man es nicht wagte, sie sich nackt vorzustellen, geschweige denn, sexuelle Handlungen, wenn auch nur in der Fantasie, an ihr zu vollziehen. Wir Jungen fragten uns, ob sie einen Freund hatte, und wenn ja, wer dieser glückliche Götter­sohn war, der die unvorstellbar große Ehre hatte, sie zu berühren und zu küssen, geschweige denn, all die anderen Dinge mit ihr tun durfte, von denen wir uns nicht einmal erlaubten zu träumen.

Wir machten uns gegenseitig darauf aufmerksam, wenn Elke den Schulhof betrat, wir machten hilflose Scherze, schmunzelten verlegen, wenn sie näher kam, schauten hin und dann wieder weg und wieder hin, auffällig unauffällig. Wir verloren unser Schmunzeln, als sie an uns vorbei ging, uns den grazilen Rücken zukehrte, ohne uns eines einzigen Blickes zu würdigen und wir sahen uns nur noch verstohlen an, weil sich eine Traurigkeit über uns legte. Eine Traurig­keit über die Gewissheit, dass wir ein Mädchen wie Elke niemals haben würden, niemals.

Heute frage ich mich, ob diese ernüchternde Erfahrung, die man so jung, Tag für Tag aufs Neue machte, uns auch später keine großen Träume mehr träumen ließ. Man beschränkte sich automatisch auf das Kleine, das Machbare, das man durch Fleiß und Ausdauer erreichen konnte, das aber eigentlich schon kein richtiger Traum mehr gewesen war.

Ich lief durch die Straßen und wusste nicht wohin. Es war erst viertel nach neun. Ich konnte jetzt noch nicht nach Hause. Meine sichtbare Verfassung und die frühe Zeit hätte ich meiner Mutter nicht erklären können.

Ich setzte mich auf eine Bank an der Erft. Nach wenigen Minuten ging ich weiter, setzte mich auf eine andere Bank, stand nur Sekunden später wieder auf um weiter zu gehen. Ich wollte verstehen, was da eben geschehen war. Ich hatte noch nie einen so betrunkenen Menschen gesehen. Nicht einmal mein Vater war so fern seiner selbst, wenn er von irgendeinem Treffen der Schützen nach Hause kam. Aber das wirklich Schlimme daran war, dass ich jedes Wort, das Karin zu mir gesagt hatte, glaubte. Ich glaubte ihr, dass sie so dachte. Es hatte trotz allem echt geklungen.

Für einige Momente dachte ich ernsthaft darüber nach, meiner Mutter alles über Karin zu erzählen, verwarf die Idee aber sofort wieder, als das Bild meiner Mutter in ihrem lila schimmernden Kleid, den Stulpenhandschuhen und dem Diadem in ihrem Haar vor mir auftauchte.

Ich versuchte es mit dem Friedhof, ging durch die Gräberreihen und wartete auf die beruhigende Wirkung. Aber diesmal funktionierte es nicht. Die stillen, mahnenden Grabsteine führten zu nichts. Der Friedhof würde mir nie mehr den Frieden und die Ruhe geben, so wie er es früher getan hatte, als Claudia noch nicht hier in der Erde lag. Ihr Grab, eine permanente, stumme Anklage.

Vorbei an der Kleinschwimmhalle ging ich die Straße Zum Hagelkreuz hoch, überquerte die Gleise und schlenderte den Feldweg entlang, auf dem ich noch vor wenigen Tagen Karin nachts hinterhergerannt war. Neben dem kleinen Fluss, aus dem ich sie gezogen hatte, setzte ich mich ins Gras. Von hier aus konnte ich den Hochsitz sehen. Das rotweiße Absperrband hatte man entfernt. Nichts erinnerte mehr an den Unfall.

Ich dachte unentwegt an Karin, konnte ihr entglittenes Gesicht nicht aus meinen Gedanken verbannen. Aber ich wollte nicht an sie denken, weil ich mich für sie schämte, weil sie eine andere, eine abstoßende Frau gewesen war. Weil sie nicht die Frau gewesen war, in die ich mich ver­liebt hatte.

Und weil die Gegenwart so unerträglich und die Zukunft einfach unvorstellbar war, blieb mir nichts anderes übrig, als wieder in die Vergangenheit zu fliehen.

An den Rändern dieser Felder, auf die ich blickte, hatten wir als Kinder gespielt, hatten mit unseren Taschenmessern kleine Stücke aus den frisch geernteten Zuckerrüben herausgeschnitten und probiert, oder hatten die Bauern bei der Weizenernte beobachtet, wie sie mit furchteinflößend großen Mähdreschern das Korn einholten. Oder man lag auf der Wiese zwischen den grasrupfenden Kühen und schaute einfach in den Himmel, bis am Abend die Bauern kamen und ihre Kühe molken.

Die Schönheit dieses Huckleberry-Finn-Lebens lag viel­leicht darin, nichts tun zu müssen, aber auch nichts tun zu wollen, weil man unendlich viel Zeit hatte und auf seine selbstverständliche Unsterblichkeit baute. Ein Zustand, den man damals nicht mit Unsterblichkeit benennen konnte, der einen aber harmlos und ohne schlechtes Gewissen den Tag verwehen ließ, mit wagen, aber niemals zwingenden Plänen für den nächsten Morgen. Man wartete auf die kleinen oder großen Dinge, die irgend­wann da kommen mochten, oder auch nicht.

Noch hatten wir es nicht eilig.

Aber was nützten mir jetzt die Erinnerungen an vergangene, vermeintlich bessere Tage, sie konnten mich nicht trösten, und sie konnten die Dinge in der Gegenwart nicht ungeschehen machen.

Irgendwann ging ich den Weg zurück, am Sportplatz vorbei, wo eine Klasse mit ihrem Lehrer Fußball spielte. Kleine rotbraune Aschewolken stiegen von ihren Füßen auf. Ich krallte mich mit den Fingern in den Maschendraht und ließ mich etwas hängen, beobachtete die Kinder. Ich empfand Neid dafür, dass es den Kindern nur darum ging, Tore zu schießen, dieses Spiel gewinnen zu wollen. Das war ihr momentaner Lebensinhalt. Das Wichtigste, zumindest für diesen Tag, oder auch nur für diese Stunde.

Während ich die Kinder beobachtete, kamen mir erste Zweifel, ob es richtig gewesen war, Karin einfach so zu­rückgelassen zu haben. Ich hatte Angst davor, dass sich das hässliche Bild, das ich jetzt von ihr hatte, verfestigte, sich einbrannte.

Ich hatte Angst, sie nie wieder zu sehen, oder noch viel schlimmer, sie nie wieder sehen zu wollen.

Ich überquerte den Schulhof meiner alten Grundschule, ging mitten durch Kinderscharen, die mich überhaupt nicht wahrnahmen. Es war die große Pause, und jeder war intensiv mit etwas beschäftigt. Sie spielten Fangen, Quar­tett, kletterten auf Gerüsten, die Mädchen spielten Himmel und Hölle, und überall ein irrsinnig lautes Geschrei und Gezeter.

Bis ich einen Jungen entdeckte, der abseits der anderen, ganz für sich allein an der Waschbetonmauer der Schule lehnte und auf den Boden starrte.

Dann blickte er auf, in die Menge der spielenden Kinder und dann wieder zu Boden. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, stand er unbe­haglich da, so als würde er etwas nicht begreifen, eine Sache, die zu groß für ihn war, und die er einfach nicht fassen konnte. Es war nur eine Ahnung von dem, was in der Zukunft mit ihm geschehen würde, und diese Ahnung machte ihm Angst und alle anderen Kinder um ihn herum sahen nicht das, was er sah, und darum beneidete er sie.

Der Junge sah mich an und er folgte mir mit seinen Blicken. Ich hatte das Bedürfnis, mich vor ihn zu knien, eine Hand auf seine Schulter zu legen und ihn zu trösten. Aber mir fielen keine tröstenden Worte ein. Ich hätte ihm nur die Wahrheit sagen können. Dass das nur der Anfang war, dass nichts jemals wieder besser würde, sondern alles nur noch schlimmer und verwirrender. Dass die schöne, beschützte Zeit, von der er glaubte, dass sie ewig anhielte, bereits vorbei war und dass, wenn man glaubte, man hätte das Schlimmste endlich überstanden, etwas noch Schlim­meres vor einem lag und es niemals wieder gut würde, niemals, und dass man lernen musste, diese Tatsache einfach hinzunehmen, wenn man nicht verrückt werden wollte.

Ich ging an dem Jungen vorbei und er schaute wieder in sich gekehrt und unverwandt in die Menge der Kinder.

Ich verließ den Schulhof. Das Geschrei wurde nach und nach leiser.

Als ich mich noch einmal umschaute, war der Junge verschwunden.

An einem der ersten schon warmen Abende sitzen wir nebeneinander auf deiner Terrasse, du im Rollstuhl, ich auf einem dieser weißen Monoblocstühle. Ich war schon zwei Stunden länger bei dir als sonst. Es ist bereits dunkel. Vor uns liegt der winzige Garten, nicht größer als dein Wohnzimmer, einige Rosensträucher am Rand, umgeben von den dicht wachsenden Zypressen.

Wir halten uns an den Händen und schauen in Erman­gelung eines fernen Horizonts in den sternengesprenkelten Nachthimmel, während uns aus der spaltbreit offenen Terrassentür klassische Musik, eine Oper, glaube ich, die du zuvor aufgelegt hast, gerade noch erreicht. Du hast dich geschminkt, willst mir unbedingt gefallen. Dunkelrote Lippen und Wangenrouge, silberblauer Lid­schatten. Fast kränkt es mich, dass du glaubst, dass es der Schminke bedürfe, mir zu gefallen.

Ich glaube, du willst für mich eine romantische Situation heraufbeschwören, von der du denkst, dass ich mir sie wünschen würde, für die du selbst aber noch nicht bereit bist. Und das rührt mich.

Deine Hand zu halten, macht mich stolz, sogar stolzer, als mit dir schlafen zu dürfen. Es hat etwas Verbindlicheres als es ein Beischlaf je haben kann. An den Händen haltend, sind wir miteinander verbunden und dennoch kann ich den eigenen Gedanken nachhängen. Das ist ein selten empfun­denes Gefühl von Sicherheit und gleichzeitiger Freiheit. Ich empfinde es als das allumfassende Glück.

Immer wieder schaue ich unmerklich zu dir hinüber, während du zu den Sternen siehst, oder an ihnen vorbei in ein Erinnerungsland, das mir nicht zugänglich ist.

Irgendwann bemerke ich, wie deine Augen mehr und mehr funkeln, und dann lässt du meine Hand los, schlägst dir beide Hände vors Gesicht und es brechen fünf kurze Sätze aus dir heraus.

»Dieses dumme, blöde Kind! - Wieso fällt dieses blöde Kind da runter? - Sie hat früher viel gefährlichere Sachen angestellt. - Und nie ist etwas passiert, nie. - Dieses dumme, dumme Kind!«

Du legst dir eine Hand vor den Mund, um dich selbst zum Verstummen zu bringen.

Wieder ringe ich kurz mit mir, dir alles zu sagen, aber ich ahne, dass auch dieser Moment nicht der Richtige sein wird, dass es wahrscheinlich niemals einen perfekten Moment geben wird, nie geben kann.

Ich stehe auf und schiebe dich zurück ins Schlafzimmer, helfe dir ins Bett. Du wirst jetzt noch etwas weinen. Dann wirst du mit dem Alkohol beginnen, trinken und weiter weinen, solange, bis beides dich so müde gemacht hat, dass du endlich einschläfst und es dich hoffentlich schlafen lässt, bis zum nächsten Morgen.

Ich weiß, dass ich nun gehen soll. Aber es tut immer weh, dich so zurück lassen zu müssen. Dabei würden wir uns gerade in den Nächten brauchen. Wir warten beide auf den Schlaf, der uns nur mühsam und spät in der Nacht überkommt. Oft will ich mich noch nach Mitternacht aus dem Haus schleichen, aber das Risiko, dass meine Eltern mich erwischen, ist zu groß, und dann könnte ich dich vielleicht nie wiedersehen.

Und jetzt, wie jedes Mal, wenn ich von Karin wieder nach Hause kam, fand ich meine Mutter in der Küche und meinen Vater im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Es folgten Begrüßungsfloskeln und die einzige und scheinbar wichtigste Frage, ob ich noch etwas essen wolle. Jedes Mal das Gleiche.

An jenem Abend, als ich erst zweieinhalb Stunden später zu Hause war, erzählte ich ihnen, dass der Film Überlänge gehabt hätte und der Bus um diese Zeit nur noch jede Stunde führe. Sie glaubten es. Und sie würden es nicht überprüfen. Weil sie es glauben wollten.

Wenn ich dann mein Zimmer betrat, hatte ich mehr und mehr den Eindruck, mich immer wieder aufs Neue zurecht­finden zu müssen, wie bei einer vorübergehenden Amnesie. Die Dinge um mich herum verloren weiterhin ihre Bedeutung, wurden mir immer gleichgültiger und alles konzentrierte sich nur noch auf Karin. Der Drang wurde größer, sofort wieder umzukehren und die Nacht bei ihr zu verbringen.

Oft holte ich ihren Ehering aus dem Versteck, steckte ihn mir an den Finger und spielte in Gedanken durch, wie es wäre, mit ihr zusammen zu ziehen, mit ihr zu leben. Irgendwo nähmen wir uns eine kleine Wohnung, wenn auch nicht in Glesch. In drei Jahren wäre es legal. Ich stellte mir vor, eine Lehre zu machen, zu arbeiten, Geld zu verdienen, ich würde sie spazieren fahren, ich würde für uns einkaufen. An den Wochenenden führen wir in die Eifel und picknickten wo immer wir wollten.

Mit fünfzehn dachte ich so.

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