Was am Ende übrig bleibt



Und augenblicklich dachte ich an Elke, das mit Abstand und zweifellos hübscheste Mädchen des gesamten Erft­gymnasiums. Groß und schlank, lange, gelockte, brü­nette Haare, ein fein geschnittenes, aristokratisch edel anmuten­des Gesicht, aber auch mit einer wie einen unsichtbaren Schutzschild vor sich hertragenden Aura des Unbe­rührbaren, von solch überirdischer Schönheit, dass man es nicht wagte, sie sich nackt vorzustellen, geschweige denn, sexuelle Handlungen, wenn auch nur in der Fantasie, an ihr zu vollziehen. Wir Jungen fragten uns, ob sie einen Freund hatte, und wenn ja, wer dieser glückliche Götter­sohn war, der die unvorstellbar große Ehre hatte, sie zu berühren und zu küssen, geschweige denn, all die anderen Dinge mit ihr tun durfte, von denen wir uns nicht einmal erlaubten zu träumen.

Wir machten uns gegenseitig darauf aufmerksam, wenn Elke den Schulhof betrat, wir machten hilflose Scherze, schmunzelten verlegen, wenn sie näher kam, schauten hin und dann wieder weg und wieder hin, auffällig unauffällig. Wir verloren unser Schmunzeln, als sie an uns vorbei ging, uns den grazilen Rücken zukehrte, ohne uns eines einzigen Blickes zu würdigen und wir sahen uns nur noch verstohlen an, weil sich eine Traurigkeit über uns legte. Eine Traurig­keit über die Gewissheit, dass wir ein Mädchen wie Elke niemals haben würden, niemals.

Heute frage ich mich, ob diese ernüchternde Erfahrung, die man so jung, Tag für Tag aufs Neue machte, uns auch später keine großen Träume mehr träumen ließ. Man beschränkte sich automatisch auf das Kleine, das Machbare, das man durch Fleiß und Ausdauer erreichen konnte, das aber eigentlich schon kein richtiger Traum mehr gewesen war.

An einem der ersten schon warmen Abende sitzen wir nebeneinander auf deiner Terrasse, du im Rollstuhl, ich auf einem dieser weißen Monoblocstühle. Ich war schon zwei Stunden länger bei dir als sonst. Es ist bereits dunkel. Vor uns liegt der winzige Garten, nicht größer als dein Wohnzimmer, einige Rosensträucher am Rand, umgeben von den dicht wachsenden Zypressen.

Wir halten uns an den Händen und schauen in Erman­gelung eines fernen Horizonts in den sternengesprenkelten Nachthimmel, während uns aus der spaltbreit offenen Terrassentür klassische Musik, eine Oper, glaube ich, die du zuvor aufgelegt hast, gerade noch erreicht. Du hast dich geschminkt, willst mir unbedingt gefallen. Dunkelrote Lippen und Wangenrouge, silberblauer Lid­schatten. Fast kränkt es mich, dass du glaubst, dass es der Schminke bedürfe, mir zu gefallen.

Ich glaube, du willst für mich eine romantische Situation heraufbeschwören, von der du denkst, dass ich mir sie wünschen würde, für die du selbst aber noch nicht bereit bist. Und das rührt mich.

Deine Hand zu halten, macht mich stolz, sogar stolzer, als mit dir schlafen zu dürfen. Es hat etwas Verbindlicheres als es ein Beischlaf je haben kann. An den Händen haltend, sind wir miteinander verbunden und dennoch kann ich den eigenen Gedanken nachhängen. Das ist ein selten empfun­denes Gefühl von Sicherheit und gleichzeitiger Freiheit. Ich empfinde es als das allumfassende Glück.

Immer wieder schaue ich unmerklich zu dir hinüber, während du zu den Sternen siehst, oder an ihnen vorbei in ein Erinnerungsland, das mir nicht zugänglich ist.

Irgendwann bemerke ich, wie deine Augen mehr und mehr funkeln, und dann lässt du meine Hand los, schlägst dir beide Hände vors Gesicht und es brechen fünf kurze Sätze aus dir heraus.

»Dieses dumme, blöde Kind! - Wieso fällt dieses blöde Kind da runter? - Sie hat früher viel gefährlichere Sachen angestellt. - Und nie ist etwas passiert, nie. - Dieses dumme, dumme Kind!«

Du legst dir eine Hand vor den Mund, um dich selbst zum Verstummen zu bringen.

Wieder ringe ich kurz mit mir, dir alles zu sagen, aber ich ahne, dass auch dieser Moment nicht der Richtige sein wird, dass es wahrscheinlich niemals einen perfekten Moment geben wird, nie geben kann.

Ich stehe auf und schiebe dich zurück ins Schlafzimmer, helfe dir ins Bett. Du wirst jetzt noch etwas weinen. Dann wirst du mit dem Alkohol beginnen, trinken und weiter weinen, solange, bis beides dich so müde gemacht hat, dass du endlich einschläfst und es dich hoffentlich schlafen lässt, bis zum nächsten Morgen.

Ich weiß, dass ich nun gehen soll. Aber es tut immer weh, dich so zurück lassen zu müssen. Dabei würden wir uns gerade in den Nächten brauchen. Wir warten beide auf den Schlaf, der uns nur mühsam und spät in der Nacht überkommt. Oft will ich mich noch nach Mitternacht aus dem Haus schleichen, aber das Risiko, dass meine Eltern mich erwischen, ist zu groß, und dann könnte ich dich vielleicht nie wiedersehen.

Und jetzt, wie jedes Mal, wenn ich von Karin wieder nach Hause kam, fand ich meine Mutter in der Küche und meinen Vater im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Es folgten Begrüßungsfloskeln und die einzige und scheinbar wichtigste Frage, ob ich noch etwas essen wolle. Jedes Mal das Gleiche.

An jenem Abend, als ich erst zweieinhalb Stunden später zu Hause war, erzählte ich ihnen, dass der Film Überlänge gehabt hätte und der Bus um diese Zeit nur noch jede Stunde führe. Sie glaubten es. Und sie würden es nicht überprüfen. Weil sie es glauben wollten.

Wenn ich dann mein Zimmer betrat, hatte ich mehr und mehr den Eindruck, mich immer wieder aufs Neue zurecht­finden zu müssen, wie bei einer vorübergehenden Amnesie. Die Dinge um mich herum verloren weiterhin ihre Bedeutung, wurden mir immer gleichgültiger und alles konzentrierte sich nur noch auf Karin. Der Drang wurde größer, sofort wieder umzukehren und die Nacht bei ihr zu verbringen.

Oft holte ich ihren Ehering aus dem Versteck, steckte ihn mir an den Finger und spielte in Gedanken durch, wie es wäre, mit ihr zusammen zu ziehen, mit ihr zu leben. Irgendwo nähmen wir uns eine kleine Wohnung, wenn auch nicht in Glesch. In drei Jahren wäre es legal. Ich stellte mir vor, eine Lehre zu machen, zu arbeiten, Geld zu verdienen, ich würde sie spazieren fahren, ich würde für uns einkaufen. An den Wochenenden führen wir in die Eifel und picknickten wo immer wir wollten.

Mit fünfzehn dachte ich so.

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