Schonzeit - Landläufige Geschichten



Krönungsball

Die Luft im Festzelt ist stickig. Es riecht nach einer unguten Mischung aus Bier, Zigaretten und Parfum. Die Tanz­kapelle spielt einen Mallorca-Schlager. Viel zu laut, als dass man sich unterhalten könnte. Der Bretterboden knarrt unter all den tanzenden Paaren. Michael und seine Frau Bianca sitzen sich an einem schmalen Biertisch gegenüber. Michael trägt seinen Schützenanzug, der nach Mottenpulver riecht. Bianca ein beigefarbenes Seiden­kleid mit Puff­ärmeln, das sie sich erst vor einer Woche gekauft hat. Er kommt sich lächerlich vor in seiner grünen Tracht. Das will er Bianca sagen, aber er müsste gegen die Musik anschreien. Er will nicht schreien. Er will hier nicht sein. Er tut es für Bianca. Nur ihretwegen ist er hier. Ihretwegen ist er Mitglied in der Schützen­bruderschaft ge­worden. Darum trägt er diesen stinkenden Anzug mit von Bianca blank polierten Abzeichen und Emblemen.

Michael geht zur Theke. Für Bianca holt er wie immer ein Radler, Bier mit Limonade. Er hat keine Ahnung, warum sie so etwas mag. Für sich bestellt er ein Kölsch. Er fragt sich, wie lange er es auf dieser harten Holzbank aushalten muss, bis Bianca entscheidet, dass sie gehen können. Er kommt sich verlassen vor, inmitten dieser feierwütigen Menschen. In diesen Momenten wünscht sich Michael immer, ein wenig unnachgiebiger zu sein. Er versucht sich vorzustellen, wie er einfach aufsteht, nach Hause geht, und seine Frau alleine zurücklässt. Aber die Vorstellung zerfällt, noch ehe er sie in ihrer letztendlichen Konsequenz zu Ende gedacht hat.

Es ist seine Schuld. Er ist immer nach­giebig gewesen, von Anfang an. Er war für sie von Düsseldorf nach Glesch ge­zogen, obwohl er in Düsseldorf arbeitet. Bianca bestimmt, in welche Filme sie gehen, oder welchen Urlaub sie buchen. Selbst den Namen ihres Sohnes hat sie alleine ausgewählt. Sicher, er durfte Vor­schläge machen, aber sie hat jeden sofort verworfen und sich schließlich für Ingolf entschieden. Erst als der Name in der Geburtsurkunde stand, hatte sie ihn ge­fragt, was er von dem Namen halte. Er gefällt mir, hatte er gelogen.

Die Tanzkapelle hat jetzt eine Pause eingelegt. Der heute Morgen erst gekrönte Schützenkönig betritt eine kleine erhöhte Bühne, um seine Antrittsrede zu halten. Tuschelnden und kichernden Paaren, die von der Tanzfläche zurück zu ihren Tischen eilen, bedeutet man mit dem Zeigefinger vor dem Mund leise zu sein. Als der Schützenkönig mit seiner Rede beginnt, drehen die Leute ihre Köpfe in dessen Richtung. Michael kennt diesen Mann nicht und es interessiert ihn auch nicht, was er zu sagen hat.

Auch Bianca hat sich zur Bühne gedreht und Michael betrachtet ihr Profil. Ihre hohe Stirn, die schmale Nase, ihre vollen Lippen und die noch immer glatte Haut. Sie ist schön, denkt er. Sie ist zwei­undvierzig und immer noch schön. Das Gesicht passt nicht zu ihrer Einfachheit. Es stört ihn, dass sie nie ein Buch liest und Schwarzweiß­fotografien von aus dem Meer schnellenden Wal­flossen für Kunst hält. Aber immer wenn er sie ansieht, hat er dieses warme Gefühl des Verzeihens, das wahr­scheinlich mehr auf Mitleid und einem banalen Beschützerinstinkt beruht. Nicht, dass sie schwach wäre, aber ihre Schlichtheit sieht er eher als eine Behin­derung, eine unheilbare Krank­heit, einen Unfall der Natur. Auf jeden Fall Etwas, für das sie keine Schuld trägt. Es gibt Kollegen im Büro, deren Frauen entweder klug und hässlich oder dumm und schön sind. Das ist die Mehrzahl. Aber dann gibt es einige wenige, deren Frauen sowohl dumm als auch hässlich sind. Und das sind dann die Witzbolde, die zu jeder Situation einen lustigen Spruch abruf­bereit haben, so als könnten sie ihr Problem einfach weg lachen. Er gehört zur Mehrzahl und das beruhigt ihn. Jetzt, wo er darüber nach­denkt und sie ansieht, bekommt er Lust mit ihr zu schlafen. Sie haben immer noch regelmäßig Sex. Und der Sex ist gut. Das heißt doch, dass sie ihn als Mann akzeptiert, denkt Michael.

»Kannst du nicht wenigstens so tun, als ob du ein bisschen Spaß hättest?«, flüstert Bianca. Sie hat bemerkt, dass Michael sie wie in Trance angestarrt hat. Er hat nur Satzfetzen aus der Rede des Schützen­königs mitbekommen. Da ging es um Zusammengehörigkeitsgefühl und Stär­kung des Dorflebens, das Wohl der Bru­derschaft und die Verbunden­heit zum Wohnort.

Er will ihr gerade erklären, dass er hier niemals so etwas wie Spaß haben könnte und viel lieber jetzt mit ihr zu Hause wäre, als sich eine Biene auf Biancas Bier­kelch­rand niederlässt.

»Eine Biene!«, stellt sie fest und wedelt angewidert mit der Hand über dem Glas.

»Ja. Eine Biene. Und man soll nicht nach ihnen schlagen, sonst stechen sie«, sagt Michael.

Das Tier tänzelt scheinbar orien­tierungslos über ihren Köpfen und landet schließlich wieder auf dem Rand des Kelches. Bianca schlägt wieder nach ihr. Die Biene fliegt kurz hoch und landet an gleicher Stelle.

»Lass sie doch einfach in Ruhe. Bienen setzten sich nicht auf Scheiße. Sie mag eben dieses süße Zeug.«

»Ja. Aber sie kann stechen«, sagt Bianca.

»Nicht, wenn du nicht nach ihr schlägst.«

Bianca sieht ihn mit zusammenge­kniffenen Augen an.

»Und wenn es eine besonders boshafte Biene ist, die sich nicht an die Regeln hält?«

Michael seufzt etwas zu theatralisch, wendet sich ab und versucht krampfhaft, der Rede des Schützenkönigs zu folgen. Es will ihm nicht gelingen. Es kommen wieder nur einzelne Worte wie Stolz, Grundwerte und Traditionswahrung bei ihm an. Die Wangen des Schützenkönigs glühen und die kleine Frau, die neben ihm steht, schaut sichtlich gerührt und stolz zu ihrem Mann auf. Michael bemerkt die bewundernden Blicke Biancas für das Königspaar. Er weiß, dass es seit langem ihr Traum ist, eines Sonntags in einer weißen Kutsche durch Glesch gefahren zu werden, als Frau des Schützen­königs, und mit großem Gefolge. Michaels Fantasie reicht nicht aus, sich vorzustellen, warum man sich einer derartigen Peinlich­keit frei­willig aus­setzen sollte. Bianca hat ihn schon so oft darum angefleht, aber es ist der einzige Wunsch, den Michael ihr nicht erfüllen will, nicht erfüllen kann.

Die Biene landet erneut auf Biancas Bierkelch und kriecht an der Innenseite des Glases nach unten, bis sie auf die begehrte Flüssigkeit stößt. Bianca sieht Michael an und wartet, bis er sie ansieht. Dann nimmt sie den Strohhalm aus dem Glas, zieht vorsichtig den Bierdeckel unter dem Kelch heraus und legt ihn dann mit einer raschen Bewegung auf das Glas.

Die Biene ist gefangen. Biancas Miene erhellt sich augenblicklich und ein zu­friedenes Grinsen zieht sich um ihren Mund. Sie sieht Michael triumphierend an. Dieses zufriedene und gleichzeitig nieder­trächtige Grinsen kennt er nicht an ihr.

»Und was hast du jetzt davon?«, fragt Michael.

»Das Vieh wird mich zumindest nicht mehr stechen können«.

Ein älteres Ehepaar am Nachbartisch schaut ihnen zu. Der Mann lächelt Bianca an und sie lächelt zurück. Diese uner­wartete Komplizenschaft zwischen einem wild­fremden Menschen und seiner Frau enttäuscht ihn und macht ihn mutlos. Er will nicht resignieren.

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